Denken nach Illich
 
 
Letzte Aktualisierung: 26 Oktober, 2006 (c) Bremen, Deutschland  
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Circle for Research on Proportionality (CROP)

Bremen, September 1999 (ursprünglich auf englisch geschrieben für Jerry Brown, übersetzt für Johannes Beck)

Wir sind eine Gruppe von rund einem Dutzend Freunden, die sich durch Ivans Vorlesungen und am Spaghetti-Tisch von Barbara Duden hier in Bremen und in State College kennengelernt haben. Einige von uns sind bereits gestandene Professoren: Antje Menk, Prof. für Linguistik (Universität Bremen), Prof. Barbara Duden, Historikerin am Institut für Soziologie (Universität Hannover), Prof. Constantinos Hatzikiriakou, der im Fachbereich Mathematik an der Universität von Kreta lehrt, Sajay Samuel, Professor für Accounting an der Universität von Connecticut und Prof. Samar Farage, Soziologin an der Pennsylvania State University. Lee Hoinacki, Philosoph und Theologe, arbeitet schon seit mehreren Jahrzehnten mit Illich zusammen. Silja Samerski und Matthias Rieger sind gerade dabei, ihre Dissertationen in Soziologie bzw. Musikwissenschaft abzuschließen. In den letzten drei Jahren haben wir uns vor allem in Bremen, aber auch in den USA, in Italien und in Mexiko getroffen, um auch mit dortigen Mitstreitern über den‚ Verlust der Proportionalität nachzudenken.

In diesen gemeinsamen Gesprächen ist jeder von uns auf seine Weise darum bemüht, einer von Illich angeregten Fragestellung nachzugehen. Um mit einem Wort zusammenzufassen, worum es uns geht, haben wir bisher immer von ‚Proportionalität' gesprochen. Damit meinen wir den verschwundenen Sinn für das Angemessene, Gute und Wahre. Wenn wir gemeinsam in der Geschichte stöbern, versuchen wir, den allmählichen Verlust dieses Wissens um 'Entsprechung' zu ergründen. Dabei geht es uns nicht um die nostalgische Wiederbelebung der Vergangenheit oder um die Beschwörung einer esoterischen Ganzheitlichkeit. Indem wir aus der Vergangenheit in die Gegenwart blicken, wollen wir uns einen Standpunkt schaffen, von dem aus wir die heutige 'Entsprechungslosigkeit' fassen können.

Entscheidend für unser Verständnis von 'Entsprechung' ist die Ich-Du Beziehung. In seinen Bremer Vorlesungen ist Illich dieser historisch einzigartigen Entsprechung im Westen anhand des Gleichnisses vom Samariter nachgegangen. Allein eine zweite Person - ein Du - kann in dieser Beziehung richtungsweisend sein für ein 'Ich'. Diese Zuwendung zum Nächsten ist laut Illich revolutionär, weil sie nicht bestimmt ist durch Geburt wie in der griechischen Polis, nicht durch das Gesetz oder durch eine göttliche Gewalt, und auch nicht durch die Verinnerlichung von Normen, sei es in Form des Gewissens oder als moralischer Imperativ. Bereits seit Jahrzehnten argumentiert Illich, daß zwei Jahrtausende westlicher Geschichte nur dann zu verstehen sind, wenn man von diesem christlichen Aufruf zur Freundschaft ausgeht. Die freie Zuneigung zum Nächsten ist durch die Institutionalisierung der Nächstenliebe zu einer Dienstleistung verkommen. Angefangen mit der Gründung von Wohnheimen für Obdachlose im 3. Jahrhundert über die großen Anstalten wie Gefängnis, Klinik und Schule bis zur Professionalisierung des Alltagslebens heute hat die institutionalisierte Dienstleistung den Nächsten in einen Klienten verwandelt. Die Entstehung der Dienstleistungsgesellschaft ist inzwischen gut untersucht worden. Wir jedoch wollen eine zweite Verwandlung begreifen, die während der letzten Jahrzehnte stattgefunden hat: Institutionen handhaben nicht länger Klienten, sondern sie managen jetzt deren Profile.

Die genetische Beratung ist ein drastisches Beispiel für eine derart gemanagte Beziehung. Während einer genetischen Beratungssitzung sitzt eine Frau, die ein Kind erwartet, einem Mediziner gegenüber, der sich auf Risikomanagement und auf die Statistik von Chromosomenverteilungen spezialisiert hat. Dieser belehrt sie über die biologischen Vorgänge während der Befruchtung und über die verschiedenen Risiken, die sich daraus für sie ergeben. Aufgrund ihres Zustandes und weiterer statistischer Merkmale steckt der Genetiker sie in eine statistische Grundgesamtheit. Jede biologische Abnormität, die mit dieser Grundgesamtheit korreliert, erscheint plötzlich als Bedrohung für sie und ihr erwartetes Kind. Der Genetiker illustriert diese Bedrohung durch Photographien von mißgebildeten Kindern, durch Mendelschen Kreuzungsschemata und durch Risikokurven. Diese soll sie sich zu Herzen nehmen, indem sie in den Anlagekombinationen und Schnittpunkten der Wahrscheinlichkeitsgraphen das 'Du' wiedererkennt, mit dem sie bisher schwanger ging. An diesem Punkt der Beratung versichert der Genetiker ihr, daß sie nun informiert genug sei, eine Entscheidung zu treffen. Denn das Ritual der genetischen Beratung gipfelt darin, daß sie auf der Grundlage dieser Belehrung ein Urteil fällen muß. Schließlich ist sie es, die entscheiden muß: Zieht sie es aufgrund des statistischen Profils des Föten vor, diesen lebend oder tot auf die Welt zu bringen?

Für diese Aufforderung, dich und mich mit Datenprofilen zu identifizieren, gibt es heute viele Beispiele. Richter schicken Menschen ins Gefängnis, Ärzte erklären sie für tot, Lehrer benoten sie, Manager bezahlen sie, und sie - sie sind nicht mehr als ein Bündel aus Daten. Modernes Management erfordert zusehends, daß sich die Verwalteten mit den ihnen zugeschriebenen Merkmalen gleichsetzen. Hier, unter diesen Verhältnissen, wenn 'Du' zu einem technogenen Datenprofil verkommt, stellen wir die Frage nach Freundschaft.

In den nächsten fünf Jahren wollen wir herausfinden wie Entschiedenheit und Entschlußkraft durch Entscheidungskompetenz, Sorge und Zuneigung durch Verantwortung und "Ich und Du" durch technogene Datenprofile ersetzt worden ist. Dabei sind unsere verschiedenen Hintergründe für unsere Überlegungen sehr fruchtbar. Sajay Samuel zeigt, wie in der modernen Verwaltung Personen durch technogene Konstrukte wie Lifestyle, menschliche Ressourcen und Lebensqualität verdrängt worden sind. Am Beispiel der genetischen Beratung beschreibt Silja Samerski, wie professionelle Information Sorge und Verbundenheit in Kosten-Nutzen-Abwägungen umwandelt. Barbara Duden stellt dar, wie die ver-rückte Konkretion (misplaced concreteness) des wissenschaftlichen Begriffes 'Risikoschwangerschaft' die Befindlichkeit von Frauen verwüstet. Als Kontrast zur gegenwärtigen Verwaltung von Kranken untersucht Samar Farage die auf philia beruhende Bezüglichkeit zwischen Arzt und Patient in der galenischen Tradition. Durch seine Untersuchung des Verschwindens der Harmonie in der Musik des 18. Jahrhunderts liefert uns Matthias Rieger ein anschauliches Beispiel für den Zusammenbruch von Stimmigkeit. Für Costas Hatzikiriakou ist die Identifikation von Einheit und Zahl im 17. Jahrhundert ein Schlüssel zu den Umbrüchen, die dazu geführt haben, daß das Gute durch abwägbare moralische Werte ersetzt werden konnte.

Im Moment befinden wir uns inmitten einer Reihe von Symposien zu diesen Fragen. Unsere Schriften und Protokolle bieten wir einem breiteren Kreis von Lesern an. In der Tradition von Barbara Dudens und Ivan Illichs Gastfreundschaft laden wir Freunde und andere Interessierte zu unserer kleinen Denkerei ein. Wer an unseren Gesprächen und Überlegungen teilhaben möchte, ist herzlich willkommen als Teilnehmer unserer Treffen, als Gast am Spaghetti-Tisch und als kritischer Leser unserer Schriften.