Circle
for Research on Proportionality (CROP)
Bremen, September
1999 (ursprünglich auf englisch geschrieben
für Jerry Brown, übersetzt für
Johannes Beck)
Wir sind eine Gruppe
von rund einem Dutzend Freunden, die sich durch
Ivans Vorlesungen und am Spaghetti-Tisch von Barbara
Duden hier in Bremen und in State College kennengelernt
haben. Einige von uns sind bereits gestandene
Professoren: Antje Menk, Prof. für Linguistik
(Universität Bremen), Prof. Barbara Duden,
Historikerin am Institut für Soziologie (Universität
Hannover), Prof. Constantinos Hatzikiriakou, der
im Fachbereich Mathematik an der Universität
von Kreta lehrt, Sajay Samuel, Professor für
Accounting an der Universität von Connecticut
und Prof. Samar Farage, Soziologin an der Pennsylvania
State University.
Lee Hoinacki, Philosoph und Theologe, arbeitet
schon seit mehreren Jahrzehnten mit Illich zusammen.
Silja Samerski und Matthias Rieger sind gerade
dabei, ihre Dissertationen in Soziologie bzw.
Musikwissenschaft abzuschließen. In den
letzten drei Jahren haben wir uns vor allem in
Bremen, aber auch in den USA,
in Italien und in Mexiko getroffen, um auch mit
dortigen Mitstreitern über den Verlust
der Proportionalität nachzudenken.
In diesen gemeinsamen
Gesprächen ist jeder von uns auf seine Weise
darum bemüht, einer von Illich angeregten
Fragestellung nachzugehen. Um mit einem Wort zusammenzufassen,
worum es uns geht, haben wir bisher immer von
Proportionalität' gesprochen. Damit
meinen wir den verschwundenen Sinn für das
Angemessene, Gute und Wahre. Wenn wir gemeinsam
in der Geschichte stöbern, versuchen wir,
den allmählichen Verlust dieses Wissens um
'Entsprechung' zu ergründen. Dabei geht es
uns nicht um die nostalgische Wiederbelebung der
Vergangenheit oder um die Beschwörung einer
esoterischen Ganzheitlichkeit. Indem wir aus der
Vergangenheit in die Gegenwart blicken, wollen
wir uns einen Standpunkt schaffen, von dem aus
wir die heutige 'Entsprechungslosigkeit' fassen
können.
Entscheidend für
unser Verständnis von 'Entsprechung' ist
die Ich-Du Beziehung. In seinen Bremer Vorlesungen
ist Illich dieser historisch einzigartigen Entsprechung
im Westen anhand des Gleichnisses vom Samariter
nachgegangen. Allein eine zweite Person - ein
Du - kann in dieser Beziehung richtungsweisend
sein für ein 'Ich'. Diese Zuwendung zum Nächsten
ist laut Illich revolutionär, weil sie nicht
bestimmt ist durch Geburt wie in der griechischen
Polis, nicht durch das Gesetz oder durch eine
göttliche Gewalt, und auch nicht durch die
Verinnerlichung von Normen, sei es in Form des
Gewissens oder als moralischer Imperativ. Bereits
seit Jahrzehnten argumentiert Illich, daß
zwei Jahrtausende westlicher Geschichte nur dann
zu verstehen sind, wenn man von diesem christlichen
Aufruf zur Freundschaft ausgeht. Die freie Zuneigung
zum Nächsten ist durch die Institutionalisierung
der Nächstenliebe zu einer Dienstleistung
verkommen. Angefangen mit der Gründung von
Wohnheimen für Obdachlose im 3. Jahrhundert
über die großen Anstalten wie Gefängnis,
Klinik und Schule bis zur Professionalisierung
des Alltagslebens heute hat die institutionalisierte
Dienstleistung den Nächsten in einen Klienten
verwandelt. Die Entstehung der Dienstleistungsgesellschaft
ist inzwischen gut untersucht worden. Wir jedoch
wollen eine zweite Verwandlung begreifen, die
während der letzten Jahrzehnte stattgefunden
hat: Institutionen handhaben nicht länger
Klienten, sondern sie managen jetzt deren Profile.
Die genetische
Beratung ist ein drastisches Beispiel für
eine derart gemanagte Beziehung. Während
einer genetischen Beratungssitzung sitzt eine
Frau, die ein Kind erwartet, einem Mediziner gegenüber,
der sich auf Risikomanagement und auf die Statistik
von Chromosomenverteilungen spezialisiert hat.
Dieser belehrt sie über die biologischen
Vorgänge während der Befruchtung und
über die verschiedenen Risiken, die sich
daraus für sie ergeben. Aufgrund ihres Zustandes
und weiterer statistischer Merkmale steckt der
Genetiker sie in eine statistische Grundgesamtheit.
Jede biologische Abnormität, die mit dieser
Grundgesamtheit korreliert, erscheint plötzlich
als Bedrohung für sie und ihr erwartetes
Kind. Der Genetiker illustriert diese Bedrohung
durch Photographien von mißgebildeten Kindern,
durch Mendelschen Kreuzungsschemata und durch
Risikokurven. Diese soll sie sich zu Herzen nehmen,
indem sie in den Anlagekombinationen und Schnittpunkten
der Wahrscheinlichkeitsgraphen das 'Du' wiedererkennt,
mit dem sie bisher schwanger ging. An diesem Punkt
der Beratung versichert der Genetiker ihr, daß
sie nun informiert genug sei, eine Entscheidung
zu treffen. Denn das Ritual der genetischen Beratung
gipfelt darin, daß sie auf der Grundlage
dieser Belehrung ein Urteil fällen muß.
Schließlich ist sie es, die entscheiden
muß: Zieht sie es aufgrund des statistischen
Profils des Föten vor, diesen lebend oder
tot auf die Welt zu bringen?
Für diese
Aufforderung, dich und mich mit Datenprofilen
zu identifizieren, gibt es heute viele Beispiele.
Richter schicken Menschen ins Gefängnis,
Ärzte erklären sie für tot, Lehrer
benoten sie, Manager bezahlen sie, und sie - sie
sind nicht mehr als ein Bündel aus Daten.
Modernes Management erfordert zusehends, daß
sich die Verwalteten mit den ihnen zugeschriebenen
Merkmalen gleichsetzen. Hier, unter diesen Verhältnissen,
wenn 'Du' zu einem technogenen Datenprofil verkommt,
stellen wir die Frage nach Freundschaft.
In den nächsten
fünf Jahren wollen wir herausfinden wie Entschiedenheit
und Entschlußkraft durch Entscheidungskompetenz,
Sorge und Zuneigung durch Verantwortung und "Ich
und Du" durch technogene Datenprofile ersetzt
worden ist. Dabei sind unsere verschiedenen Hintergründe
für unsere Überlegungen sehr fruchtbar.
Sajay Samuel zeigt, wie in der modernen Verwaltung
Personen durch technogene Konstrukte wie Lifestyle,
menschliche Ressourcen und Lebensqualität
verdrängt worden sind. Am Beispiel der genetischen
Beratung beschreibt Silja Samerski, wie professionelle
Information Sorge und Verbundenheit in Kosten-Nutzen-Abwägungen
umwandelt. Barbara Duden stellt dar, wie die ver-rückte
Konkretion (misplaced concreteness) des wissenschaftlichen
Begriffes 'Risikoschwangerschaft' die Befindlichkeit
von Frauen verwüstet. Als Kontrast zur gegenwärtigen
Verwaltung von Kranken untersucht Samar Farage
die auf philia beruhende Bezüglichkeit zwischen
Arzt und Patient in der galenischen Tradition.
Durch seine Untersuchung des Verschwindens der
Harmonie in der Musik des 18. Jahrhunderts liefert
uns Matthias Rieger ein anschauliches Beispiel
für den Zusammenbruch von Stimmigkeit. Für
Costas Hatzikiriakou ist die Identifikation von
Einheit und Zahl im 17. Jahrhundert ein Schlüssel
zu den Umbrüchen, die dazu geführt haben,
daß das Gute durch abwägbare moralische
Werte ersetzt werden konnte.
Im Moment befinden
wir uns inmitten einer Reihe von Symposien zu
diesen Fragen. Unsere Schriften und Protokolle
bieten wir einem breiteren Kreis von Lesern an.
In der Tradition von Barbara Dudens und Ivan Illichs
Gastfreundschaft laden wir Freunde und andere
Interessierte zu unserer kleinen Denkerei ein.
Wer an unseren Gesprächen und Überlegungen
teilhaben möchte, ist herzlich willkommen
als Teilnehmer unserer Treffen, als Gast am Spaghetti-Tisch
und als kritischer Leser unserer Schriften. |