Rieger,
Matthias (2006): Helmholtz Musicus. Die Objektivierung
der Musik im 19. Jahrhundert durch Helmholtz’
Lehre von den Tonempfindungen. WBG:Darmstadt;
174 Seiten.
Abstract
Inhaltsverzeichnis
zum
Inhalt von "Helmholtz Musicus"
Im Jahre 1863 veröffentliche der Physiologe
Hermann Helmholtz eine Abhandlung über die
naturwissenschaftlichen Grundlagen der Musik,
mit der er nicht nur einen Grundstein für
die systematische Musikwissenschaft legte, sondern
auch ein technogenes, auf objektivierenden Meßinstrumenten
beruhendes Musikverständnis propagierte.
Auf knapp 600 Seiten, gespickt mit Tabellen, Graphen
und mathematischen Formeln, formulierte er die
erste physikalisch-physiologische Theorie über
die Grundlagen der Musik und ihrer Wahrnehmung.
Bis heute prägt dieses Werk das Nachdenken
über Musik wie auch ihre Praxis, sei es in
der Wissenschaft oder auf der Bühne.
Die
vorliegende Studie untersucht, wie Helmholtz mit
seiner ,Lehre von den Tonempfindungen‘ ein
Verständnis von Musik und Wahrnehmung formuliert,
das sowohl mit der musikalischen Erfahrung seiner
Zeitgenossen als auch mit tradierten Anschauungen
über Harmonie, Hören, Musizieren und
Musikinstrument radikal bricht. Von Pythagoras,
dem legendären Entdecker der Musik, bis ins
18. Jahrhundert hinein galt Musik als Widerhall
einer universellen Harmonie. Musik war nicht Tonkunst,
sondern klingende Ethik, die auf der Lehre von
den Proportionen beruhte. So wie Gesundheit ein
ausgewogenes Verhältnis der Körpersäfte
bedurfte oder die Wahrnehmung der Entsprechung
von Sinnesorgan und Wahrgenommenem, so konnten
auch Töne nur konsonant sein, wenn sie im
passenden Verhältnis zueinander standen.
In dieser Kunst der richtigen Verhältnismäßigkeit
des Schönen und damit auch Guten übten
sich also nicht nur Musiker, sondern auch Baumeister,
Mediziner, Politiker und Philosophen.
,Helmholtz
Musicus‘ untersucht, wie der Autor der ,Tonempfindungen‘
seine Leser in einen naturwissenschaftlichen Denkstil
einweist, in dem sowohl musikalische Erfahrung
als auch die metaphysischen Aspekte der Lehre
von den Proportionen bedeutungslos sind. Nur wer
seine unwissenschaftlichen Vorstellungen von musikalischen
Begriffen wie ,Ton‘, ,Timbre‘, ,Konsonanz‘,
,Gehör‘ und ,Musikinstrument‘
aufgibt, so Helmholtz, und sich die neuen akustischen
Begriffsdefinitionen zu eigen macht, kann erkennen:
Die Grundlagen der Musik sind physikalisch und
physiologisch. Weil aber damals die Akustik Musikern,
Philosophen, Musikgelehrten und anderen naturwissenschaftlichen
Laien nicht bedeutsam erschien, muss Helmholtz
ihnen die Bedeutung seiner Fachdisziplin erst
plausibel machen. Er muß seine Leser nicht
nur darin unterrichten, akustisch zu denken, sondern
sie auch sinnlich lehren, wie ein Akustiker wahrzunehmen.
Indem er sie zu akustischen Experimenten anleitet,
bringt er ihnen bei, ihren Ohren nicht mehr zu
trauen, sondern sie als Instrumente zur Verifikation
wissenschaftlicher Hypothesen zu benutzen. Über
diesen Sinneswandel hoffte Helmholtz auch einen
Gesinnungswandel herbeizuführen. Musiker
und Musikgelehrte sollten ihre ablehnende Haltung
gegenüber der Akustik dadurch überwinden,
dass sie am eigenen Leib erfuhren: nicht der Ton
macht die Musik, sondern die physiologische ,Tonempfindung‘.
Anhand
der Geschichte, wie Musiker, Musikgelehrte und
Komponisten das Werk rezipierten, zeigt ,Helmholtz
Musicus‘, wie schnell sich die Konzepte
und Begriffsdefinitionen aus dem Laboratorium
in der Alltagswelt verbreiteten. Am Ende des 19.
Jahrhunderts bildeten Helmholtz‘ objektivierende
Verfahren und akustischen Begrifflichkeiten bereits
den Rahmen, in dem die noch junge Musikwissenschaft
die Theorie, Geschichte, Ästhetik und Wahrnehmung
von Musik erforschte. Aber auch außerhalb
der gelehrten Welt prägte Helmholtz‘
akustische Musikauffassung die Art und Weise,
wie Musik wahrgenommen und ausgeübt wurde
– nicht zuletzt auch durch die technische
Materalisierung seiner Konzepte im Telefon und
Phonographen.
Die
musikwissenschaftliche Forschung geht heute wie
damals davon aus, dass Helmholtz‘ Verständnis
von Klang als Schall und Hören als Schallrezeption
die ahistorische Grundlage der Musik bildet. In
der vorliegenden Studie wird dagegen durch Exkurse
in die Geschichte seiner zentralen Begrifflichkeiten
gezeigt, dass die Genese der modernen Selbstverständlichkeiten
der Musikwissenschaft sich nur anhand des Verlustes
des Sinnes für das Verhältnismäßige,
für die richtigen Proportionen verstehen
lässt. Durch den historischen Rückgang
zu den Grundlagen der pythagoreischen Proportionslehre
wird deutlich, dass erst mit deren Entwertung
eine ,objektive‘ Musikauffassung möglich
wurde – ein Verständnis von Musik,
das nicht mehr auf musikalischer Erfahrung und
Überlieferung, sondern auf der wissenschaftlichen
Vermessung von Klang und Ohr beruht.
Helmholtz‘
Werk muss daher in der Musikwissenschaft als Gründungsurkunde
des modernen Musikverständnisses gelesen
werden, welches Musizieren als Produktion und
Musikhören als Rezeption technogener Klänge
begreift. Für die Geschichte der Objektivität
ist es hingegen ein Schlüsseldokument, weil
das Werk am Beispiel der Musik verdeutlicht, dass
die Entwertung der Proportionslehre sich als historische
Kehrseite der naturwissenschaftlichen Objektivierung
des 19. Jahrhunderts verstehen lässt.
Inhaltsverzeichnis
"Helmholtz Musicus"
Inhalt
Abstract
Vorwort
1. Einleitung: Die naturwissenschaftliche Objektivierung
der Grundlagen der Musik
1.1 Die Lehre von den Tonempfindungen
1.2 Warum Helmholtz? – Warum heute?
1.3 Forschungsgeschichte als Wirkungsgeschichte
1.4 Methodische Vorüberlegungen
1.5 Zur Gliederung der Arbeit
2. Zwischen physiologischem Labor und musikalischer
Leidenschaft
2.1 Spurensuche: Helmholtz’ Jugend- und
Studienjahre
2.2 Die Etablierung des Experiments als Garant
der objektiven Naturwissenschaft
2.3 Helmholtz’ sinnesphysiologische Arbeiten
2.4 Maßverwalter und Wissenschaftsindustrieller:
Die Berliner Jahre
2.5 Zusammenfassung: Helmholtz Musicus
3. Die Einleitung der ‘Tonempfindungen’
als akustische Blickprägung
3.1 Helmholtz’ leitende Fragestellung:
Die naturwissenschaftliche Erklärung der
pythagoreischen Gründungslegende der Musik
3.2 Helmholtz’ neuer Forschungsansatz:
Die wissenschaftliche Untersuchung der musikalischen
Konsonanzen
3.3 Die Tonempfindung als neuer Forschungsgegenstand
der musikalischen Akustik
3.4 Die Einübung des Lesers in die Wahrnehmungsweise
des Akustikers
3.5 Zusammenfassung: Die akustische Neubegründung
der Musik
4. Gegenblick: Helmholtz’ Objektivierung
von Ton, Gehör und Konsonanz im Licht der
pythagoreischen Proportionslehre
4.1 Die Pythagoras-Legende und ihre Bedeutung
für die Proportionslehre
4.2 Proportion, Zahl und Ton
4.3 Die Proportion zwischen Tönendem und
Gehör
4.4 Die allmähliche Entwertung der Proportionslehre
4.5 Zusammenfassung: Pythagoras Musicus
5. Die Objektivierung von Gehör und Ton
5.1 Die naturwissenschaftliche Objektivität
der Akustik
5.2 Die Objektivierung des Gehöres
5.3 Der objektive Klang
5.4 Alltagserfahrung und akustisches Experiment:
Helmholtz erklärt die Schallwelle
5.5 Zusammenfassung: Gehör und Ton als
Objekte der Akustik
6. Strategien der Objektivierung: Vermessung und
Begriffswandel
6.1 Relation und Frequenz: Der Ton wird zum
vermessbaren Klang
6.2 Begriffswandel: Musikalische Terminologie
und akustische Fachsprache
6.3 Zusammenfassung: Objektivierung als Entmusikalisierung.
Vom musikalischen Ton zur physikalischen Einzelschwingung
7. Der erlebte Klang: Die Einübung des Lesers
in die Wahrnehmungsweise des Akustikers
7.1 Hörerziehung: Das Ohr wird auf Klang
geeicht
7.2 Wie Musikinstrumente zu Klangerzeugern werden
und das Ohr zum Analyseinstrument
7.3 Das Klavier im Ohr
7.4 Das Ohr als Klanganalysator: Helmholtz’
Untersuchungen zur Anatomie eines wissenschaftlichen
Instrumentes
7.5 Zusammenfassung: Die Kongruenz zwischen
Klang und Ohr
8. Die Objektivierung der musikalischen Konsonanzen
8.1 Klangmasse und die ‘Trinität’
der Töne. Die Enthistorisierung des Zusammenklanges
8.2 Helmholtz’ Konsonanzbegriff: Objektivierung
durch Quantifizierung
8.3 Historische Blickschärfung: Die dichotomische
Konsonanz-Dissonanz-Beziehung
8.4 Zusammmenfassung: Die Auflösung des
pythagoreischen Rätsels und die Objektivierung
der Konsonanz
9. Musikgeschichte als Klanggeschichte
9.1 Musikgeschichte als Vorgeschichte der Akustik
9.2 Helmholtz’ Klang als Grundlage der
Dur-Moll-Tonalität des 19. Jahrhunderts
9.3 Gleichschwebende Temperatur: Die Gefährdung
der Naturgesetzlichkeit des physikalischen Klanges
9.4 Zusammenfassung: Helmholtz’ Klang
macht Geschichte
10. Sinneswandel: Wie die Lehre von den Tonempfindungen
sich Gehör verschaffte
10.1 Popularisierung: Die Tonempfindungen werden
unter das Volk gebracht
10.2 Dissonanzen: Helmholtz’ ‹Tonempfindungen›
in der Kritik seiner Zeitgenossen
10.3 Tonempfindende Komponisten und Musikwissenschaftler
10.4 Phonograph und Telefon: Die technologische
Popularisierung von objektiven Klang und Ohr
10.5 Zusammenfassung: Klang und Ohr verlassen
das akustische Laboratorium
11. Schlussbetrachung
Helmholtz’ naturwissenschaftlich-objektive
Neubegründung der Musik
Die Homogenisierung heterogener Erfahrungen
Musikinstrument und Gehör als wissenschaftliche
Instrumente
Sprachenteignung: Die Okkupation musikalischer
Begrifflichkeiten
Objektivierung als Kolonisierung der Vergangenheit
Helmholtz als Musicus der Moderne
Verzeichnis der Siglen
Literaturverzeichnis
^nach
oben^
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