Denken nach Illich
 
 
Letzte Aktualisierung: 26 Oktober, 2006 (c) Bremen, Deutschland  
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Rieger, Matthias (2006): Helmholtz Musicus. Die Objektivierung der Musik im 19. Jahrhundert durch Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen. WBG:Darmstadt; 174 Seiten.

Abstract

Inhaltsverzeichnis

 


 

zum Inhalt von "Helmholtz Musicus"

Im Jahre 1863 veröffentliche der Physiologe Hermann Helmholtz eine Abhandlung über die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Musik, mit der er nicht nur einen Grundstein für die systematische Musikwissenschaft legte, sondern auch ein technogenes, auf objektivierenden Meßinstrumenten beruhendes Musikverständnis propagierte. Auf knapp 600 Seiten, gespickt mit Tabellen, Graphen und mathematischen Formeln, formulierte er die erste physikalisch-physiologische Theorie über die Grundlagen der Musik und ihrer Wahrnehmung. Bis heute prägt dieses Werk das Nachdenken über Musik wie auch ihre Praxis, sei es in der Wissenschaft oder auf der Bühne.

Die vorliegende Studie untersucht, wie Helmholtz mit seiner ,Lehre von den Tonempfindungen‘ ein Verständnis von Musik und Wahrnehmung formuliert, das sowohl mit der musikalischen Erfahrung seiner Zeitgenossen als auch mit tradierten Anschauungen über Harmonie, Hören, Musizieren und Musikinstrument radikal bricht. Von Pythagoras, dem legendären Entdecker der Musik, bis ins 18. Jahrhundert hinein galt Musik als Widerhall einer universellen Harmonie. Musik war nicht Tonkunst, sondern klingende Ethik, die auf der Lehre von den Proportionen beruhte. So wie Gesundheit ein ausgewogenes Verhältnis der Körpersäfte bedurfte oder die Wahrnehmung der Entsprechung von Sinnesorgan und Wahrgenommenem, so konnten auch Töne nur konsonant sein, wenn sie im passenden Verhältnis zueinander standen. In dieser Kunst der richtigen Verhältnismäßigkeit des Schönen und damit auch Guten übten sich also nicht nur Musiker, sondern auch Baumeister, Mediziner, Politiker und Philosophen.

,Helmholtz Musicus‘ untersucht, wie der Autor der ,Tonempfindungen‘ seine Leser in einen naturwissenschaftlichen Denkstil einweist, in dem sowohl musikalische Erfahrung als auch die metaphysischen Aspekte der Lehre von den Proportionen bedeutungslos sind. Nur wer seine unwissenschaftlichen Vorstellungen von musikalischen Begriffen wie ,Ton‘, ,Timbre‘, ,Konsonanz‘, ,Gehör‘ und ,Musikinstrument‘ aufgibt, so Helmholtz, und sich die neuen akustischen Begriffsdefinitionen zu eigen macht, kann erkennen: Die Grundlagen der Musik sind physikalisch und physiologisch. Weil aber damals die Akustik Musikern, Philosophen, Musikgelehrten und anderen naturwissenschaftlichen Laien nicht bedeutsam erschien, muss Helmholtz ihnen die Bedeutung seiner Fachdisziplin erst plausibel machen. Er muß seine Leser nicht nur darin unterrichten, akustisch zu denken, sondern sie auch sinnlich lehren, wie ein Akustiker wahrzunehmen. Indem er sie zu akustischen Experimenten anleitet, bringt er ihnen bei, ihren Ohren nicht mehr zu trauen, sondern sie als Instrumente zur Verifikation wissenschaftlicher Hypothesen zu benutzen. Über diesen Sinneswandel hoffte Helmholtz auch einen Gesinnungswandel herbeizuführen. Musiker und Musikgelehrte sollten ihre ablehnende Haltung gegenüber der Akustik dadurch überwinden, dass sie am eigenen Leib erfuhren: nicht der Ton macht die Musik, sondern die physiologische ,Tonempfindung‘.

Anhand der Geschichte, wie Musiker, Musikgelehrte und Komponisten das Werk rezipierten, zeigt ,Helmholtz Musicus‘, wie schnell sich die Konzepte und Begriffsdefinitionen aus dem Laboratorium in der Alltagswelt verbreiteten. Am Ende des 19. Jahrhunderts bildeten Helmholtz‘ objektivierende Verfahren und akustischen Begrifflichkeiten bereits den Rahmen, in dem die noch junge Musikwissenschaft die Theorie, Geschichte, Ästhetik und Wahrnehmung von Musik erforschte. Aber auch außerhalb der gelehrten Welt prägte Helmholtz‘ akustische Musikauffassung die Art und Weise, wie Musik wahrgenommen und ausgeübt wurde – nicht zuletzt auch durch die technische Materalisierung seiner Konzepte im Telefon und Phonographen.

Die musikwissenschaftliche Forschung geht heute wie damals davon aus, dass Helmholtz‘ Verständnis von Klang als Schall und Hören als Schallrezeption die ahistorische Grundlage der Musik bildet. In der vorliegenden Studie wird dagegen durch Exkurse in die Geschichte seiner zentralen Begrifflichkeiten gezeigt, dass die Genese der modernen Selbstverständlichkeiten der Musikwissenschaft sich nur anhand des Verlustes des Sinnes für das Verhältnismäßige, für die richtigen Proportionen verstehen lässt. Durch den historischen Rückgang zu den Grundlagen der pythagoreischen Proportionslehre wird deutlich, dass erst mit deren Entwertung eine ,objektive‘ Musikauffassung möglich wurde – ein Verständnis von Musik, das nicht mehr auf musikalischer Erfahrung und Überlieferung, sondern auf der wissenschaftlichen Vermessung von Klang und Ohr beruht.

Helmholtz‘ Werk muss daher in der Musikwissenschaft als Gründungsurkunde des modernen Musikverständnisses gelesen werden, welches Musizieren als Produktion und Musikhören als Rezeption technogener Klänge begreift. Für die Geschichte der Objektivität ist es hingegen ein Schlüsseldokument, weil das Werk am Beispiel der Musik verdeutlicht, dass die Entwertung der Proportionslehre sich als historische Kehrseite der naturwissenschaftlichen Objektivierung des 19. Jahrhunderts verstehen lässt.

Inhaltsverzeichnis "Helmholtz Musicus"

Inhalt

Abstract

Vorwort

1. Einleitung: Die naturwissenschaftliche Objektivierung der Grundlagen der Musik

1.1 Die Lehre von den Tonempfindungen
1.2 Warum Helmholtz? – Warum heute?
1.3 Forschungsgeschichte als Wirkungsgeschichte
1.4 Methodische Vorüberlegungen
1.5 Zur Gliederung der Arbeit

2. Zwischen physiologischem Labor und musikalischer Leidenschaft

2.1 Spurensuche: Helmholtz’ Jugend- und Studienjahre
2.2 Die Etablierung des Experiments als Garant der objektiven Naturwissenschaft
2.3 Helmholtz’ sinnesphysiologische Arbeiten
2.4 Maßverwalter und Wissenschaftsindustrieller: Die Berliner Jahre
2.5 Zusammenfassung: Helmholtz Musicus

3. Die Einleitung der ‘Tonempfindungen’ als akustische Blickprägung

3.1 Helmholtz’ leitende Fragestellung: Die naturwissenschaftliche Erklärung der pythagoreischen Gründungslegende der Musik
3.2 Helmholtz’ neuer Forschungsansatz: Die wissenschaftliche Untersuchung der musikalischen Konsonanzen
3.3 Die Tonempfindung als neuer Forschungsgegenstand der musikalischen Akustik
3.4 Die Einübung des Lesers in die Wahrnehmungsweise des Akustikers
3.5 Zusammenfassung: Die akustische Neubegründung der Musik

4. Gegenblick: Helmholtz’ Objektivierung von Ton, Gehör und Konsonanz im Licht der pythagoreischen Proportionslehre

4.1 Die Pythagoras-Legende und ihre Bedeutung für die Proportionslehre
4.2 Proportion, Zahl und Ton
4.3 Die Proportion zwischen Tönendem und Gehör
4.4 Die allmähliche Entwertung der Proportionslehre
4.5 Zusammenfassung: Pythagoras Musicus

5. Die Objektivierung von Gehör und Ton

5.1 Die naturwissenschaftliche Objektivität der Akustik
5.2 Die Objektivierung des Gehöres
5.3 Der objektive Klang
5.4 Alltagserfahrung und akustisches Experiment: Helmholtz erklärt die Schallwelle
5.5 Zusammenfassung: Gehör und Ton als Objekte der Akustik

6. Strategien der Objektivierung: Vermessung und Begriffswandel

6.1 Relation und Frequenz: Der Ton wird zum vermessbaren Klang
6.2 Begriffswandel: Musikalische Terminologie und akustische Fachsprache
6.3 Zusammenfassung: Objektivierung als Entmusikalisierung. Vom musikalischen Ton zur physikalischen Einzelschwingung

7. Der erlebte Klang: Die Einübung des Lesers in die Wahrnehmungsweise des Akustikers

7.1 Hörerziehung: Das Ohr wird auf Klang geeicht
7.2 Wie Musikinstrumente zu Klangerzeugern werden und das Ohr zum Analyseinstrument
7.3 Das Klavier im Ohr
7.4 Das Ohr als Klanganalysator: Helmholtz’ Untersuchungen zur Anatomie eines wissenschaftlichen Instrumentes
7.5 Zusammenfassung: Die Kongruenz zwischen Klang und Ohr

8. Die Objektivierung der musikalischen Konsonanzen

8.1 Klangmasse und die ‘Trinität’ der Töne. Die Enthistorisierung des Zusammenklanges
8.2 Helmholtz’ Konsonanzbegriff: Objektivierung durch Quantifizierung
8.3 Historische Blickschärfung: Die dichotomische Konsonanz-Dissonanz-Beziehung
8.4 Zusammmenfassung: Die Auflösung des pythagoreischen Rätsels und die Objektivierung der Konsonanz

9. Musikgeschichte als Klanggeschichte

9.1 Musikgeschichte als Vorgeschichte der Akustik
9.2 Helmholtz’ Klang als Grundlage der Dur-Moll-Tonalität des 19. Jahrhunderts
9.3 Gleichschwebende Temperatur: Die Gefährdung der Naturgesetzlichkeit des physikalischen Klanges
9.4 Zusammenfassung: Helmholtz’ Klang macht Geschichte

10. Sinneswandel: Wie die Lehre von den Tonempfindungen sich Gehör verschaffte

10.1 Popularisierung: Die Tonempfindungen werden unter das Volk gebracht
10.2 Dissonanzen: Helmholtz’ ‹Tonempfindungen› in der Kritik seiner Zeitgenossen
10.3 Tonempfindende Komponisten und Musikwissenschaftler
10.4 Phonograph und Telefon: Die technologische Popularisierung von objektiven Klang und Ohr
10.5 Zusammenfassung: Klang und Ohr verlassen das akustische Laboratorium

11. Schlussbetrachung

Helmholtz’ naturwissenschaftlich-objektive Neubegründung der Musik

Die Homogenisierung heterogener Erfahrungen

Musikinstrument und Gehör als wissenschaftliche Instrumente

Sprachenteignung: Die Okkupation musikalischer Begrifflichkeiten

Objektivierung als Kolonisierung der Vergangenheit

Helmholtz als Musicus der Moderne

Verzeichnis der Siglen

Literaturverzeichnis

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